Realität als Ansichtssache

Dr. Jürgen Scriba, Experimentalphysiker und Fotokünstler über die wirklichkeitszersetzenden Tendenzen der KI und wie wir ihnen begegnen können.

Herr Scriba, wer ist Dr. Wirsing?

Jürgen Scriba: Dr. Anton Wirsing ist ein Ernährungswissenschaftler, der mit dem berühmten Chemiker und Nobelpreisträger Linus Pauling zusammengearbeitet hat. Nicht verwechseln sollte man ihn mit dem CDU-Politiker Carl Wirsing, der sich um die deutsch-französische Freundschaft verdient gemacht hat. Was beiden gemein ist: Sie existieren nicht wirklich, ebensowenig wie die Goethe-Muse Gretchen von Wirsing oder Alexander von Humboldts vermeintlicher Weggefährte Franz Xaver Wirsing. All diese Personen hat sich ChatGPT ausgedacht, inklusive detaillierter Lebensläufe, nachdem ich das Programm mit Suggestivfragen gefüttert hatte. Anschließend habe ich die Website wirsing.info aufgesetzt, die wiederum Google Bard in die Irre führte – das Google-KI-Tool hielt die Halluzinationen von ChatGPT für bare Münze, trotz eingebauter Prüffunktion, die einen Abgleich mit klassischen Google-Suchergebnissen vornimmt. Man kann also sagen: Wir haben es mit einem Realitätsverlust zweiter Ordnung zu tun.

Abgesehen von der realsatirischen Ebene Ihres Experiments: Wie werten Sie die Ergebnisse?

JS: Es zeigt sich, dass wir auf eine Epoche zusteuern, in der die Realität zur Ansichtssache wird. Es war immer schon leicht, im Netz irreführende Informationen zu verbreiten, aber heute muss man viel mehr Aufwand betreiben, um Lügen zu entlarven. Mehr noch: Schon heute sind massenhaft Desinformationen in den KI-Trainingsdaten enthalten und tauchen dann in den Antworten der nächsten KI-Generation auf. Die Folge: Das Vertrauen in Informationen schwindet immer mehr. Der unter Populisten und Verschwörungsmystikern beliebte Relativierung von Fakten wird Tür und Tor geöffnet – und die passenden KI-Bilder sind auch schnell erzeugt.

 Apropos Bilder. Visuelles wirkt viel ungefilterter als Texte – und bleibt im Hirn ausdauernder verhaftet.

JS: Das stimmt und irgendwann wissen wir nicht mehr, aus welcher Quelle ein Bild stammte. Das Hirn kondensiert alles ein, selbst für kritische Medienkonsumenten wird es schwierig, visuelle Fehlinformationen zu erkennen. Zumal wir die meisten Bilder irgendwo online sehen und Hinweise auf eine KI-Generierung – anders als bei einer klassischen Printaufmachung mit Unterzeile – oftmals fehlen.

Einer Ihrer Vorträge heißt: „Die Korrosion der Wirklichkeit: Ist generative KI das Ende der Fotografie?“ Ist sie das?

JS: Die Frage ist: Wie färben KI-Bilder auf unser Verständnis von Fotografie insgesamt ab, …

 

 


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