Knutschen wider die Einsamkeit

Alwin Maigler hat küssende Menschen, pandemischer Affront und gleichzeitig Akt der Nähe, dutzendfach während des Lockdowns festgehalten.

Ausstellung im Stuttgarter Lapidarium

Von Peter Schuffelen

Das Setting

Der erste Lockdown, dann der zweite, schließlich der dritte – wir erinnern uns mit Schaudern: Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren, Social Distancing, Versammlungsverbote, abgesagte Produktionen, Angst vor Ansteckung, Angst vor Nähe. Als die dritte Welle anrollte, entschloss sich Alwin Maigler, ein Foto-Projekt umzusetzen, das unter dem Namen „Ein Kuss ist ein Kuss ist ein Kuss“ bekannt wurde und als Ausstellung im öffentlichen Raum zu sehen war.

„Vereinsamung war für viele Menschen ein großes Thema während der Pandemie. Viele sahen, wenn überhaupt, nur ihren Partner oder ihre Dates“, meint der 26-Jährige zurückblickend. „So kam mir die Idee, Menschen zu fotografieren, die sich küssen. Der Kuss ist das genaue Gegenteil von Vereinsamung. Küssen macht glücklich, selbst beim Zusehen wird das Glückshormon Serotonin ausgeschüttet. Das schien mir in Zeiten der Pandemie genau das richtige Signal.“ Zugleich sei es ihm darum gegangen, ein Zeichen gegen menschenfeindliche, rückständige und homophobe Agenden zu setzen. Deshalb habe er bewusst nicht nur Hetero-, sondern auch queere Paare beim Knutschen zeigen wollen, so Maigler.

Das fotografische Konzept war relativ schnell umrissen: Maigler entschied sich dafür, in Schwarzweiß zu arbeiten mit einem einfachen Licht-Set-up mit Schlagschatten. „Ich wollte einen maximal reduzierten Look, um das Licht auf die Interaktion zwischen den Menschen zu richten“, sagt der Fotograf, der an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart studiert und zunächst Freunde und Kommilitonen ansprach, darunter viele queere und Menschen mit unkonventionellem Outfit. „Eine der Heraus- forderungen war das Thema Social Distancing“, sagt Maigler. „Ich konnte nicht einfach rausgehen und Leute ansprechen. Der Aufruf lief deshalb im Wesentlichen über private Kontakte und Social Media.“

Um aus der eigenen Filterblase auszubrechen, den Diversitätscharakter des Projekts zu stärken und insbesondere queere Menschen der Generation 60 plus zu erreichen, ging der Fotograf darüber hinaus eine Kooperation mit dem Stuttgarter „Projekt 100 % Mensch“ ein, das sich für die rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung und Akzeptanz aller Menschen unabhängig von ihrer sexuellen und romantischen Orientierung und ihrer Geschlechtsidentität einsetzt. „Die Idealvorstellung war ein Querschnitt durch die Bevölkerung, also inklusive Menschen mit Behinderungen, People of Color oder beispielsweise auch Hijab tragender Frauen“, sagt Maigler. „Aber das ließ sich nicht erzwingen. Ich wollte nicht forciert irgendwelche Quoten erfüllen – ich habe aktiv gesucht und versucht, die bestmögliche Diversität der Stadtgesellschaft darzustellen – ich konnte aber auch nur die Menschen fotografieren, die sich fotografieren lassen wollten.“

Am Ende nahm eine ziemlich bunte und diverse Mischung an Protagonisten teil – von lesbischen und schwulen Paaren über junge und ältere, von der queeren Richterin über Versicherungsvertreter und Langzeitarbeitslose, von Menschen, die sich gerade erst über Tinder kennengelernt hatten, bis zu bürgerlichen Ehepaaren. Und ja, sogar sich küssende Geschäftspartner finden sich darunter und ein „Dreier“: ein Kuss von zwei Frauen und einem Mann.

Die Produktion

Das Projekt startete im Dezember 2020. Die Aufnahmen fanden in Maiglers „Wil- helm 11 Studio“ in Stuttgart statt – unter coronakonformen Bedingungen. Was einen ziemlichen Aufwand bedeutete, schließlich gab es noch keine Selbsttests, alle Teilnehmenden mussten also vorab ins Testzentrum. Die größte Herausforderung sei aber …


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