Zeitbilder

Dem Chilenen Tomás Munita gelingen bei seinen Reportagen zu sozialen und ökologischen Themen Bilder von gemäldeartiger Anmutung.

Tomás Munita hat im Auftrag der New York Times eine Serie über die mittelamerikanischen Mara-Gangs gemacht, rivalisierende Banden, die mit Waffen-, Drogen- und Menschenhandel, mit Diebstahl und Prostitution ihr Geld machen und sich gegenseitig blutig bekriegen. Es sind Bilder, die den Betrachter nicht unberührt lassen: martialische Selbstinszenierungen, Bilder von Fleischwunden auf voll tätowierten Körpern, von Polizisten mit MGs und verängstigten Kindern. Und dann ist da dieses Bild, das erst auf den zweiten Blick wirkt. Zu sehen ist eine Mutter, die den toten Körper ihres Sohns identifizieren soll und, nachdem ein Beamter den Leichensack geöffnet hat, den Kopf vor Schmerz zurückwirft an die stählernen Leichen-Boxen hinter ihr.

„Derartige Situationen sind brutal für mich als Fotograf“, sagt Munita. „In diesem Fall musste ich vorab ganz kühl überlegen, wo ich mich hinstelle mit meiner Kamera, damit ich alles erfassen kann: den Leichnam, die Reaktion der Mutter, die danebenstehende Freundin. In so einem Augenblick muss ich einfach funktionieren. Das hat etwas Kaltes, aber anders geht es nicht.“

Früher war Munita fest angestellt bei Associated Press (AP), er hat dort die vielleicht wichtigste Technik des Fotojournalismus erlernt: das schnelle Erfassen des Wesentlichen, die tagesaktuelle „visuelle Punchline“, wenn man so will.

Die andere Dimension des Bildjournalismus, das Erzählen in langen, essayistischen Serien, in denen man die Protagonisten und Szenerien in subtilen Facetten allmählich kennenlernt, braucht – neben einem guten Auge – vor allem Zeit. Das war auch der Grund, warum sich der Fotograf aus Santiago de Chile 2006 entschied, seinen Nachrichtenagentur-Job an den Nagel zu hängen und fortan frei zu arbeiten. „Eigenständig zu arbeiten, mit eigener Zeit und eigenen Grenzen, ist aus meiner Sicht der beste Weg, um Bilder zu schaffen, die eine Bedeutung haben“, sagt Munita. Tatsächlich nimmt sich der 46-Jährige oft mehr Zeit, als ihm die Redaktionen – darunter Geo, National Geographic, New York Times und diverse lateinamerikanische Zeitschriften – zahlen. Doch das Mehr an Zeit zahlt sich in aus.

Slow Photography

Was beim Betrachten seiner Serien immer wieder ins Auge springt, ist seine malerische Bildsprache. Dabei sind es meist nicht „schöne“ Bilder im eigentlichen Sinne – dazu sind Munitas Themen zu ernst. Vielmehr handelt es sich um Bilder, die durch ihre farbliche und förmliche Komposition berühren, den Betrachter innehalten, genauer und länger hinsehen lassen und dadurch ihre Relevanz beziehen. Rohingya-Flüchtlinge, die an einem Flussufer kampieren; aus der Ferne eingefangen, fast wie in einem Ölbild. Arbeiter, die unter einem Meer von Vögeln an der peruanischen Küste Guano abbauen. Männer, die verzückt einen Hahnenkampf verfolgen.

Solche Bilder brauchen Zeit, Munita nimmt sie sich. Für seine Serie über Wandergesellen auf der Walz zog er drei Wochen lang durch Deutschland, schlief mit den Handwerkern im Freien, trank und feierte mit ihnen. Für seine freien Serien über das archaische Leben der Menschen in Patagonien, im äußersten Süden seines Heimatlandes, ist er jedes Jahr monatelang unterwegs, nächtigte gemeinsam mit den Männern ohne Zelt unter dem Sternenhimmel neben den Pferden. Das Ergebnis sind Aufnahmen von großer ästhetischer, manchmal ikonischer Kraft: ein Puma-Jäger auf einem Pferd am Ufer eines Sees, in dem sich verschneite Berge spiegeln. Männer bei der Fuchsjagd mit ihren Hunden, deren Fell blutgetränkt ist. Gauchos, die Rinder bändigen, enthornen, schlachten, grillen. „Das wesentliche Konzept einer Story lässt sich oft in einem einzigen Wort verdichten, dann geht es darum, genau diese Idee bildlich aufzuzeichnen“, sagt Munita. „In meiner Patagonien-Reportage heißt das Wort schlicht: Fleisch.“

Gefragt nach der Ästhetik, die seinen Bilder zugrunde liegt, und welche Bedeutung er dieser zumisst, sagt er: …

 


Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe


 

TIPA Banner