SWPA ehrt Fotografin Graciela Iturbide

Die World Photography Organisation ehrt die mexikanische Fotografin Graciela Iturbide für herausragende Leistungen für die Fotografie.

Graciela Iturbide, Perros Perdidos

Die Ehrung erfolgt im Rahmen der Sony World Photography Awards 2021. Iturbide gilt weithin als die größte lebende Vertreterin der lateinamerikanischen Fotografie. Ihr Werkkatalog ist eine fotografische Dokumentation Mexikos seit den späten 1970er-Jahren und wird als entscheidender Beitrag zur visuellen Identität des Landes gerühmt.

25 Bilder aus Iturbides Oeuvre werden in einer virtuellen Ausstellung präsentiert, die ab dem 15. April auf der Website der World Photography Organisation zu sehen ist. Die Auswahl, die die Fotografin selbst getroffen hat, umfasst bedeutende Meilensteine und Themen aus ihrer fünf Jahrzehnte währenden Karriere, darunter einige ihrer berühmtesten Arbeiten wie Nuestra Señora de las Iguanas (Unsere Liebe Frau der Leguane) und Mujer ángel (Engelsfrau).

Graciela Iturbide Selbstporträt

© Graciela Iturbide, Self Portrait In The Country, 1996

In Bildern, die das tägliche Leben und die Alltagskultur, aber auch Rituale und Religion darstellen, erkundet Iturbide die zahlreichen Komplexitäten und Widersprüche ihres Landes, hinterfragt dessen Ungleichheiten und hebt die Spannungen zwischen Stadt und Land, Moderne und Indigenität hervor. Ihre Arbeiten gehen über rein dokumentarische Narrative hinaus und möchten poetische Visionen vermitteln, mitgeprägt von den persönlichen Erfahrungen und Reisen der Fotografin. Iturbide wurde 1942 in Mexiko-Stadt als ältestes von 13 Geschwistern in eine traditionell katholische Familie geboren.

Die Heranwachsende bewunderte die Amateurfotografien ihres Vaters und hütete sorgsam die Schachtel, in der die Familienfotos aufbewahrt wurden. Mit 20 Jahren heiratete Iturbide und bekam in schneller Folge drei Kinder. Erst 1969, im Alter von 27 Jahren, entschied sie sich, ihren künstlerischen Leidenschaften nachzugehen, und schrieb sich am Filmzentrum der Universidad Nacional Autónoma de México ein. Dort studierte sie bei dem Meister der Moderne Manuel Álvarez Bravo, der später ihr Mentor wurde, und beschloss, sich der Fotografie zuzuwenden.

Als sie 1970 auf tragische Weise ihre sechsjährige Tochter Claudia verlor, wurde die Fotografie zugleich zu einer Form der Therapie für sie. Kurz darauf wurde Iturbide Álvarez Bravos Assistentin und begann, ihn auf seinen Reisen durch Mexiko zu begleiten. Sie wurde stark von Álvarez Bravos Interesse an indigenen Gemeinschaften und von seiner Philosophie beeinflusst, die vom mexikanischen Zeitgefühl geprägt war, bekannt als „Hay tiempo“ – „Es ist genügend Zeit“. Diese Denkweise, die in der mexikanischen Kunst und Literatur allgegenwärtig ist, half Iturbide, ihre eigene fotografische Sprache zu entwickeln: die Sprache einer genauen und geduldigen Beobachterin, deren Bilder die lyrischen und poetischen Qualitäten alltäglicher Momente offenbaren.

Visuelle Identitäten zurückerobern

In den späten 1970er-Jahren wurde Iturbide zu einer der zentralen Figuren einer wachsenden Bewegung lateinamerikanischer Fotografen, die sich zusammentaten, um die visuellen Identitäten ihrer Länder von den Blicken ausländischer Fotografen „zurückzuerobern“. 1978 wurde sie vom Ethnographischen Archiv des Nationalen Instituts für indigene Völker in Mexiko beauftragt, im Rahmen einer umfassenderen Initiative zur Wiederbelebung der indigenen Kulturen die indigene Bevölkerung des Landes zu fotografieren.

In Zusammenarbeit mit dem Anthropologen Luis Barjau beschäftigte sie sich eingehend mit der Gemeinschaft der Seri-Indianer, lernte ihre Bräuche kennen und dokumentierte ihre Lebensweise, mit besonderem Augenmerk auf ihre erzwungene Anpassung an den Kapitalismus. Die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit von Barjau und Iturbide wurden 1981 in dem Buch Los que viven en la arena (Die im Sand leben) veröffentlicht. Zur damaligen Zeit war dies eine der wenigen mexikanischen Studien neben Hunderten von US-amerikanischen, und das Buch wurde sofort für seine authentischere Sichtweise gerühmt. Die Erfahrungen aus dem Leben mit den Seri markierten den Beginn eines bedeutenden Teils von Iturbides Karriere. Sie verstärkten ihr großes Interesse an der Erkundung ihres Heimatlands und ihren Wunsch, Beziehungen zu seiner vielfältigen Bevölkerung aufzubauen und diese zu fotografieren.

Themen werden nicht „exotisiert“

Heute zählen die Fotoreportage über die Seri sowie eine spätere über die Zapoteken in Juchitán zu Iturbides bekanntesten Arbeiten. Sie versucht nicht, ihre Themen zu „exotisieren“; ihre Bilder vermitteln die Sichtweise einer Person, die ihre eigene Kultur verstehen und würdigen möchte.

Neben Aufnahmen indigener Völker in Mexiko umfasst die Auswahl für die virtuelle Ausstellung auch Bilder von Iturbides Reisen nach Italien, in die USA und nach Indien. Diese Fotos fokussieren auf die Welt der Natur und sind geprägt von Iturbides Faszination für deren innewohnende Symbolik und Spiritualität.

Mit dem Preis für Herausragende Leistungen für die Fotografie werden Personen oder Gruppen ausgezeichnet, die einen bedeutenden Einfluss auf das Medium Fotografie ausgeübt haben. Als 14. Preisträgerin reiht sich Graciela Iturbide in eine illustre Liste ikonischer Persönlichkeiten ein. Dazu zählen William Eggleston (2013), Mary Ellen Mark (2014), Martin Parr (2017), Candida Höfer (2018), Nadav Kander (2019) und Gerhard Steidl (2020), um nur einige zu nennen.

 

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