Der Grenzgang

Das Buch Die Verwerfung des Fotografen Carlos Spottorno ist eine Graphic Novel zwischen Tagebuch und Fotoreportage.

Dem Wesen nach ist meine Art zu fotografieren eher traditionell, ja puristisch – was vermutlich daran liegt, dass ich einst Kunst in Rom studiert habe. Andererseits experimentiere ich gerne mit unkonventionellen Formaten. Vor allem in meinen freien Projekten verstehe ich meine Bilder dabei eher als Ausgangsmaterial, mit dem ich etwas Neues schaffe. Besonders reizvoll finde ich die Kombination von Fotografie und Text. Und: Ich bin schon seit meiner Kindheit ein Comic-Fan.

Auf dieser Basis habe ich 2014 gemeinsam mit dem „El pais semanal“-Redakteur Guillermo Abril die Idee entwickelt, das Flüchtlingsdrama in Form einer Graphic Novel zu erzählen. „La Grieta“, (dt.: „Der Riss“), so der Titel des Buchs, für das wir an die Außengrenzen der EU gereist sind, war ein Erfolg. Es ist auf Spanisch, Deutsch, Französisch, Italienisch und Japanisch erschienen.

2018 haben wir dann das Konzept zu „La Falla“ (zu Deutsch: „Die Verwerfung“, d. Red.) entwickelt. In dieser Graphic Novel geht es einmal mehr um Grenzen und was sie mit den Menschen machen. In gewisser Weise ist „Die Verwerfung“ ein Gegenentwurf zu „La Grieta“. Denn sie illustriert gerade nicht inhumane Verhältnisse, wie sie in der Flüchtlingskrise deutlich werden, sondern das genaue Gegenteil: Es geht um das Zusammenwachsen verschiedener Lebenswirklichkeiten im Grenzgebiet zwischen Italien und Österreich, genauer gesagt Tirol und Südtirol-Trentino. Es geht um die paneuropäische Idee in einer Region, die einst völkisch definiert und blutig umkämpft war, und das bis in die 1980er-Jahre. In der die Bürger aber offenkundig in der Lage waren, die Schatten der Geschichte hinter sich zu lassen und eine Basis für ein friedliches Zusammenleben zu finden. Was sicherlich auch viel mit dem einmaligen ökonomischen Aufstieg der Region zu tun hat, die heute eine der reichsten Italiens und Österreichs ist – nicht zuletzt dank ihrer buchstäblich postkartenschönen Natur- und Kulturlandschaft.

Die Umsetzung

Guillermo und ich sind 2018 mehrfach und insgesamt fast drei Wochen durch die Region gereist. Wir hatten im Vorfeld eine Agenda entwickelt und Treffen mit verschiedenen Protagonisten arrangiert. Vor Ort haben sich aber immer wieder neue Aspekte und Geschichten aufgetan, die wir spontan aufgegriffen haben. Da war beispielsweise die Begegnung mit den Betreibern des Krimmler Tauernhauses, ein österreichisches Hotel nur vier Kilometer vor der italienischen Grenze – das Anfang der 1940er-Jahre rund 5.000 vor den Deutschen flüchtenden Juden Schutz geboten und wenige Monate später deutsche, vor den anrückenden Amerikanern fliehende Soldaten beherbergt hatte.

Oder die Geschichte des bis heute als Volkshelden verehrten Andreas Hofer, der Anfang des 19. Jahrhunderts die Tiroler Aufstandsbewegung gegen die bayerische und französische Besetzung seiner Heimat anführte. Wir haben alte Bunker und historische Frontlinien besucht, Veteranentreffen und Aussöhnungszeremonien zwischen ehemaligen Kombattanten in Südtirol. Daneben haben wir uns unter anderem mit folgenden Fragen beschäftigt: Definieren natürliche Grenzen immer auch politische? Gibt es so etwas wie eine „vertikale Grenze“, die die Menschen …

 


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