Der dichte Blick

Céline Pannetier schafft mit surrealem Licht und scharfem Blick für Farben, Formen und Bewegungen alternative Sichten auf die Welt.

Foto von Céline Pannetier

Die Werkzeuge der visuellen Poetin: eine kleine Festbrennweitenkamera, ein Blitzgerät und die Sonne des Südens.

Frage: Was macht eine Streetfotografin im totalen Lockdown? Antwort: Sie fotografiert weiter, nur nicht außer-, sondern innerhalb des Hauses. Die französische Fotografin Pannetier jedenfalls hat es so gemacht. In Spanien, das muss man dazu wissen, war der Lockdown über zwei Monate so hart, dass die Menschen nur einmal in der Woche zum Einkaufen oder in Notfällen rausdurften. Wer den hiesigen Lockdown mitgemacht hat, ahnt, was das bedeutet: Die Decke fällt einem auf den Kopf. Wer nicht hartgesotten ist, frisch verliebt oder über hinreichende Antidepressiva verfügt, wird leicht schwermütig. Pannetier hat zu einem bewährten Antidepressivum gegriffen, eines das ihr vertraut war aus Krisenzeiten: zu einer Kamera. In diesem Fall zu einem iPhone.

Die Bildserie, die dabei herausgekommen ist, hört auf den Namen „Diary of boredom“, zu Deutsch Tagebuch der Langeweile, und unterscheidet sich sichtlich von ihren anderen. Alle Bilder sind in ihrer Wohnung entstanden, und sie sind schwarzweiß – baden also nicht in Farbe und im warmen Licht des Südens, spielen nicht mit Passanten und Gegenständen, so wie die meisten ihrer anderen freien Arbeiten, die in den Straßen Barcelonas entstehen.

Zu sehen sind vielmehr Überlagerungen von Schatten und Formen, suggestive Andeutungen des Kopf-Gefängnisses und gelungene Ausbrüche. Aber auch das Spiel mit poetischen Mustern, die das scharfe Auge aus dem Alltäglichen herausschält, aus Leitungswasser, Seifenschaum, beschlagenen Fensterscheiben. Doch trotz dieses minimalen „Strafraums“, den man einem Streetfotografen zuweisen kann, bleibt ihre Handschrift unverkennbar: Die beständige Suche nach Formen und Zusammenhängen, die der Wirklichkeit entspringen und zugleich über sie hinausweisen, die maximale visuelle Verdichtung. „Der Lockdown war natürlich schwierig. Aber auch wenn ich diese Serie „Diary of boredom“ genannt habe – langweilig war mir eigentlich keine Sekunde, und das lag daran, dass ich wie wild fotografiert habe“, erzählt sie.

Fotografieren als Ausweg aus einer ausweglos scheinenden Situation – für die Französin ist das keine neue Erfahrung. Als sie 14 war, sagte sie: Ich will die neue Robert Capa werden, ich will auf die Art School in Arles. Doch das Leben hatte etwas anderes mit ihr vor. Sie machte Karriere im Immobiliengeschäft und zog deshalb vor 15 Jahren von Paris nach Barcelona, wo sie die Vermietung von Einkaufszentren betreute.

Fotografieren, das war und blieb eine Freizeitbeschäftigung. Dann kam die Wirtschafts- und die Immobilienkrise, ein Teil der Belegschaft verlor seine Jobs, bei Céline Pannetier kamen zusätzlich persönliche Umbrüche hinzu – das war Mitte des letzten Jahrzehnts. Wie weitermachen, wohin gehen? Sie besann sich auf ihre eigentliche Leidenschaft, schnappte sich eine Kamera und legte los. Sie versuchte sich in der Dokumentarfotografie, absolvierte einen Kurs für visuelles Storytelling an einer örtlichen Fotoschule, entwickelte sich weiter, konzentrierte sich auf ihr unmittelbares Umfeld, die Straßen und Plätze Barcelonas. Eines Tages wurde ihr klar, was sie da eigentlich machte: Streetfotografie. Und was das mit ihr machte: „Ich bin raus aus meiner Welt und zugleich mittendrin in der Welt. Es wirkte wie Meditation, und es hat mir geholfen, den Kopf freizukriegen und aus meinem Tief herauszukommen.“

Spotartige One-Shot-Collagen

Seither sind mehrere, thematisch in sich geschlossene Serien entstanden, an denen man ihre fotografisch-künstlerische Entwicklung ablesen kann. Ihre ersten beiden Projekte, in denen es um eine Reise durch Bosnien und um Domino spielende Männer in ihrer Heimatstadt Barcelona geht, sind noch unverkennbar dokumentarisch geprägt. Mit „The Straw conspiracy“ fand sie dann ihre eigene wirklichkeitsverwurzelte und …

 


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